Zustandsübergänge

Erinnerungen an 1989

An was erinnern wir uns? Wie erinnern wir? Und wer erinnert? 

„Am 3. Oktober 2024 feiert die Bundesrepublik in Mecklenburg-Vorpommerns Landeshauptstadt Schwerin den Tag der Deutschen Einheit – 34 Jahre nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Seinerzeit wurden Freiheit, Demokratie und die Überwindung der jahrzehntelangen Teilung bejubelt. Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, scheinen Freiheitsrechte in Gefahr, demokratische Werte bedroht und die Menschen im Land gespaltener denn je. Dieses Magazin wirft die Frage auf, ob der Blick zurück helfen kann, eine Brücke in Gegenwart und Zukunft zu schlagen; ob Erinnerung an das Gestern der Demokratie heute und morgen dienen kann.

Die Schweriner Artdirektorin Karen Obenauf, Jahrgang 1982, wollte von Menschen in ihrer Heimatstadt Schwerin wissen, wie sie die Zeit des Umbruchs 1989 erlebt haben. Wollen sie sich erinnern? Woran und wie erinnern sie sich? Die Schilderungen der „Zustandsübergänge“ haben zu Illustrationen inspiriert und zeigen, wie große Geschichte im Kleinen passiert. Im besten Fall wird das Magazin als Plädoyer verstanden, die Vergangenheit des Einzelnen zu achten, Meinungen anzuhören und Gemeinsamkeiten auszuloten. Wir müssen im Gespräch bleiben – respektvoll, menschlich, auf Augenhöhe. In Schwerin, in Ostdeutschland, in der Bundesrepublik. Dieses Magazin soll zum Tag der Deutschen Einheit und darüber hinaus ein kleiner Anstoß dazu sein.“

Textbeitrag von Josephine Glöckner

Es war einmal in einem Land vor meiner Zeit, da lebten Menschen hinter einer Grenze. Ihr Alltag war im Vergleich zu meinem ein gänzlich anderer und doch tragen sich die Erlebnisse dieser Menschen in meinem Leben fort. Der Systemumbruch 1989 war ein einschneidendes Ereignis, von dem alle in der DDR lebenden Menschen betroffen waren. Die Konsequenzen waren absolut und unvermeidbar. Es ist ein im Kollektiv erfahrener Abend mit Auswirkungen auf das Individuum. Die Erzählstränge der Einzelnen, die auf den Abend des 9.11.89 folgen, sind vielfältig. Aber sie sind noch lange nicht alle auserzählt. Das liegt zum einen an den Nachwirkungen eines Systemumbruchs der auch 35 Jahre später Frakturen hinterlassen hat.

Zum anderen wurden einige Themen bis heute ausgeklammert und nur wenig kritisch reflektiert. Ein Grund könnte dabei eine anfangs gut gemeinte Rücksichtnahme gewesen sein. Die Herausforderungen und Belastung äußerer Umstände galten nachfolgenden Generationen vielleicht als Grund genug, Fragen zur politischen Einstellung, politisch forcierter und gesellschaftlich tolerierter oder gar befürworteter Diskriminierung gegenüber marginalisiertem Gruppen, nicht zu stellen.

Trotzdem ist es wichtig, dass wir diese Fragen nicht verjähren lassen. Denn die Konsequenzen des Umbruchs sind trotz 34 Jahre Einheit deutlich sicht- und spürbar. Neben Vermögensverteilung, Lohnunterschiede, Bevölkerungsdichte, Ansiedlung von Unternehmen sind zum Beispiel auch die Nachwirkungen der Baupolitik im Stadtbild erkennbar. Das einst größte Neubaugebiet der DDR ist im Südosten Schwerins errichtet worden und ist heute noch Wohnort von mehr als 11.000 Menschen. Der Lebensalltag ist hier teilweise von gänzlich anderem geprägt als in den Innenstadtgebieten. Dabei sollen nicht die Unterschiede herausgestrichen werden, um eine Trennung zu verfestigen, sondern um darauf aufmerksam zu machen, was sich nachteilig auswirkt, wenn es übersehen bleibt. Die Zusammenführung der beiden deutschen Staaten steht im Kontrast zu der signifikant ausgeprägten Segregation innerhalb Schwerins. Nirgends sonst sind Bewohner*innen so deutlich nach Einkommen, Nationalität und Bildung getrennt. Die Ursachen dafür sind vielfältig, aber es sollte nicht unversucht bleiben, diese zu verstehen und möglichst dagegen anzugehen.

Um heutige Einstellungen, Werte und Ansichten nachzuvollziehen, kann sich auch gefragt werden: Wie wird die friedliche Revolution heute instrumentalisiert, um gewisse Emotionen gezielt aufleben zu lassen? Ist es das Machtgefühl des Volkes sich gegen einen autoritären Staat durchgesetzt zu haben? Ist es die bewusste Fokuslegung auf das Gefühl der Euphorie oder die Ernüchterung in den darauffolgenden Monaten und Jahren? Es gilt Strategien von denen zu durchschauen, die sich eines historischen Ereignisses bemächtigen, um heute schwelende Konflikte um Teilhabe, Benachteiligung und Abgehängt-Sein zu schüren. Wie unterscheidet sich die Erinnerung des Individuums vom Narrativ der heutigen Erzählungen und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Es ist zu begrüßen, wenn wir offen aufeinander zugehen, Erfahrungen teilen und Ereignisse weder erhöhen noch ihnen ihre Wirkmacht absprechen. Der Osten bleibt vielleicht anders und das ist okay. Es darf Unterschiede gehen. Schwerin soll aber nicht in sich geteilt bleiben, wenn Unterschiede mit einschneidenden Benachteiligungen einhergehen. Das Magazin und die Ausstellung sollen im besten Fall ein Plädoyer dafür sein, die Vergangenheit des Einzelnen zu achten, Meinungen anzuhören und Gemeinsamkeiten auszuloten.

Schwerin, September 2024

Auszüge

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